KUNST WISSEN INTERVENTION
MAGAZIN
Linda Klösel / Editorial / Version 6
In ihrer Rede The Danger of a Single Story beschreibt die nigerianische Schriftstellerin Chimamanda Ngozi Adichie, welche Auswirkungen stereotype Erzählungen darauf haben, wie wir über uns und andere denken. Wenn die immer gleiche Geschichte über eine Person, ein Land oder einen Kontinent erzählt wird, während tausende andere Geschichten verschwiegen werden, dann erzeugt das Scheinrealitäten und Überzeugungen, die sich nur schwer wieder aus unseren Köpfen entfernen lassen. Sie bekommen etwas Endgültiges, auch wenn diese Geschichten einen wahren Aspekt beschreiben: „Wenn ich nicht in Nigeria aufgewachsen wäre und alles, was ich über Afrika wüsste, aus populären Bildern bestünde, würde auch ich denken, dass Afrika ein Ort mit schönen Landschaften, schönen Tieren und unverständlichen Menschen ist, die sinnlose Kriege führen, an Armut und AIDS sterben, unfähig sind, für sich selbst zu sprechen und darauf warten, von einem freundlichen, weißen Ausländer gerettet zu werden.“
Wir Menschen sortieren die Welt und alles, was auf uns an Wahrnehmungen einwirkt, in Geschichten. Narrative haben die Macht unsere Gesellschaften zu formen, unsere Blickwinkel und Perspektiven zu beeinflussen. Neoliberale Erzählungen vom Streben nach Selbstverwirklichung, sich gegenseitig verteufelnde Kriegspropaganda, politisch motivierte manipulative Einflussnahmen, ausgrenzende und rassistische Manifestationen … diejenigen, die das Privileg haben, die immer gleichen Erzählungen massenhaft medial zu verbreiten, bestimmen, welches Machtgefälle sich durchsetzt. Es geht darum, Gegenperspektiven zu öffnen, Blickwinkel zu erweitern und scheinbar festgeschriebene Erzählungen durch weitere zu ergänzen, um eine differenzierte Formulierung und ein ausgewogenes Bild der Welt zu bekommen.
Auf unserer Reise nach Dakar und in vielen Gesprächen mit dort wirkenden Künstler*innen und Kulturschaffenden haben wir immer wieder einen Appel gehört: Zuhören! Denselben Appel, den auch ruangrupa das Kurator*innenteam der documenta 15 wiederholt aussprach. Für uns heißt das, den Erzählungen ein Stück Raum zu geben, die bisher nicht genügend Gehör fanden, und einen Raum dafür zu öffnen, die eigenen manchmal auch wertenden Überzeugungen aufzuweichen.
VERSION06 hat erstmals ein geographisches Schwerpunktthema und zeigt einen Ausschnitt der Kunstszene in Dakar. Yasmine Eid-Sabbagh spricht über ihre Erfahrung als Künstlerin auf der documenta 15 und ihre Praxis der Verbindung von Kunst und Alltag in Dakar. Alibeta Sarr und Ibaaku stellen ihren kollektiv organisierten Kunstraum KENU vor. Mit Alesandra Seutin konnten wir über die Ècole des Sables, einem Zentrum für traditionellen und zeitgenössischen afrikanischen Tanz, sprechen. Raw Material Company, eine der wichtigsten zeitgenössischen Kulturinstitutionen, wird von Fatima Bintou Rassoul Sy, Delphine Buysse und Ibrahima Thiam vorgestellt. Dank AcTVism Munich konnten wir ein Interview von Zain Raza mit Noam Chomsky über den Ukrainekrieg abdrucken. Über die besonderen Eigenheiten und die Situation der Filmbranche in der Ukraine berichtet die Gruppe Kriegsbilder. Hans Schabus und Isa Rosenberger sprachen mit uns über ihre künstlerische Praxis. Die Inserts stammen diesmal vom ukrainischen Künstler Mark Chehodaiev, der chilenischen Künstlerin Patrizia Domínguez und dem Fachbereich Ortsbezogene Kunst an der Universität für angewandte Kunst in Wien.